UMGANG MIT AGGRESSIVEN PATIENTEN
Agieren, bevor es eskaliert
Aggression und Gewalt gegen das Spitalpersonal nehmen zu. Am meisten betroffen davon sind Mitarbeitende der Notfallstationen. Am Kantonsspital Olten betreibt man deshalb seit einigen Jahren ein Deeskalationsmanagement – mit Erfolg.
Es ist kurz vor Mittag. Andrea Wehrli (Name geändert) sitzt seit einer halben Stunde im Wartebereich der Notfallstation des Kantonsspitals Olten. Sie wollte nur kurz wegen der Ohrenschmerzen kommen, die sie seit zwei Tagen plagen. Endlich wird sie von einer Pflegefachfrau gebeten, ihr zu folgen und sich in ein Untersuchungszimmer zu begeben. Als sie dort informiert wird, dass sie noch einmal etwas warten muss, platzt Andrea Wehrli der Kragen. Sie will umgehend behandelt werden, schimpft lautstark und droht mit den Fäusten.
Was kann im Spital Aggressionen auslösen?
- Krankheitsbedingte Faktoren wie psychiatrische Krankheiten, Tumorerkrankungen, Demenzerkrankungen oder Suchterkrankungen
- Psychische Faktoren wie Stress, Frustration, Angst oder Hilflosigkeit
- Interaktionsbedingte Faktoren, wenn Patienten zum Beispiel das Gefühl haben, vom Fachpersonal abgewiesen oder vernachlässigt worden zu sein
- Umgebungsbedingte Faktoren wie ein hoher Lärmpegel auf der Notfallstation, Hektik, Überbelegung und fehlende Rückzugsmöglichkeiten
Wie können Mitarbeitende reagieren?
- Achten Sie zuerst auf Ihre eigene Sicherheit – halten Sie Abstand.
- Verstehen Sie aggressives Verhalten nicht als Angriff gegen Ihre Person und bleiben Sie freundlich.
- Versuchen Sie herauszufinden, welche Not hinter der Aggression steckt.
Infrastruktur spielt eine wichtige Rolle
Solche Vorfälle kommen in dieser und ähnlicher Form immer wieder vor. Immer mehr. Über 10 000 Strafanzeigen gab es gemäss Bundesamt für Statistik in den vergangenen fünf Jahren aufgrund von solchen Vorfällen in den Spitälern. Im ländlichen Kanton Solothurn ist die Situation zwar noch nicht so prekär wie etwa in den Spitälern in Zürich oder Genf. Aber auch hier stellt man zunehmend Aggression und Gewalt gegen das Spitalpersonal fest. Im vergangenen Jahr sind im Notfall des Kantonsspitals Olten 35 von 38 Personen oft oder sehr oft beschimpft worden. Deshalb wurde im Sommer 2016 das Projekt Deeskalationsmanagement lanciert. Das Ziel: Entwicklung eines Konzeptes für den Umgang mit Aggressionen. Betroffen von Aggressionen sind in erster Linie die Notfallabteilung, aber auch die Patientenaufnahme und der Empfang.
«Wir stellten fest, dass die Deeskalationsprävention beginnt, bevor Aggression auftritt», sagt Karin Jordi, Pflegeexpertin MScN am Kantonsspital Olten und verantwortlich für das Projekt. «Deshalb suchten wir als Erstes nach aggressionsauslösenden Faktoren.» Dazu gehören der Fussweg zum Notfall, aber auch Beschriftungen oder das Raumklima im Wartebereich. In einem weiteren Schritt wurden Mitarbeitende befragt, was ihre eigene Haltung gegenüber aggressiven Menschen ist. Werden aggressive Patienten etwa als frech und manipulativ empfunden oder als Menschen in Not?
Menschen in Ausnahmesituationen können zuweilen mit Aggression und Wut reagieren. Karin Jordi führte das Deeskalationskonzept am Kantonsspital Olten mit grossem Erfolg ein.
Richtig reagieren
Danach wurde das professionelle Verhalten in einer Situation geübt, die bereits eskaliert ist oder zu eskalieren droht. «Dabei wurde zum Beispiel aufgezeigt, wie man Kontakt zu angespannten Patienten aufnehmen und eine kooperative Beziehung aufbauen kann», sagt Karin Jordi. Aber auch der Alarmierungsablauf wurde überprüft. Und als dritten und ebenfalls sehr wichtigen Schritt soll jede Eskalation nachbearbeitet werden. «Betroffene Mitarbeitende müssen nach einem Aggressionserlebnis emotional betreut werden», so Karin Jordi. «Ausserdem können wir so die Situation noch einmal fachlich reflektieren, um daraus zu lernen.» Das Deeskalationsmanagement ist am Kantonsspital Olten ein grosser Erfolg. Viele Mitarbeitende berichten, dass sie mit einer anderen, professionelleren Haltung an schwierige Situationen herangehen und Aggressionen so frühzeitig entschärfen können.
Die Pflegefachfrau bleibt ruhig und zeigt Verständnis für die Situation von Andrea Wehrli. Im Gespräch findet sie heraus, dass die Kinder der Patientin in wenigen Minuten zu Hause vor der verschlossenen Haustüre stehen werden und niemand da sein wird. Mit einem Telefonanruf an die Nachbarin konnte dieses Problem gelöst werden. Und damit verschwand auch die Angst um die Kinder als Ursache des aggressiven Verhaltens.
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