DEESKALATIONSTRAINING
Gewalt, Aggression, Macht und Ohnmacht in der Klinik
Aggression in der Klinik. Wie lässt sie sich vermeiden? Ist grundsätzlich der Patient der Auslöser? Besuch bei einem Deeskalationstraining im Klinikum Braunschweig.
Ja, manchmal geht es auch ums Kämpfen. Das bestätigt die Krankenpflegerin Elisabeth Schroeder von der Intensivstation der Unfallklinik in Braunschweig. Wir haben hier Griffe gelernt, wie man sich zum Beispiel befreien kann, wenn ein demenzkranker Patient sich an einem festklammert», sagt Schroeder zur Ärzte Zeitung.
Aber was hier bei diesem Seminar geschieht, hat wenig zu tun mit Selbstverteidigung am Krankenbett. Dafür umso mehr mit Macht und Ohnmacht im Krankenhaus, mit Aufmerksamkeit für die Situation und den Möglichkeiten, angespannte Momente zu entspannen. «Ich bin ja relativ gross», sagt Schroeder als Beispiel, «und wenn ich da so von oben auf einen Patienten in seinem Bett hinabblicke, dann hat das schon eine Wirkung.» Will sagen: Der schiere Grössenunterschied kann schon zu Aggressionen eines ohnedies verängstigten Patienten führen. Was dann? Mit zehn Kollegen und Kolleginnen nimmt Schroeder an einem sogenannten Deeskalationstraining des Klinikums Braunschweig teil. In Vorträgen, Gruppenarbeiten und Rollenspielen lernen sie, Konflikte und Gewalt am Arbeitsplatz zu entschärfen.
Krankenbetten für Übungszwecke
In dem grossen Raum mit offenem Dachstuhl unterm Dach des Fortbildungszentrums des Klinikums in Braunschweig sitzen die zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Trainings im Kreis: altgediente und erfahrene Profis, wie Annette Martius von der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und der Pfleger Frank Abel von der Psychosomatischen Station oder jüngere Kolleginnen wie Vanessa Meier, die in der Notaufnahme arbeitet.
Die Krankenbetten, die hier zu Übungszwecken stehen, wurden unter Plastikplanen an den Rand gerollt und die Tische an die Seite, damit Platz für den Stuhlkreis bleibt. Inzwischen ist die Gruppe den dritten Tag zusammen.
Der Bedarf ist offenbar riesig. «Wir bieten seit vergangenem Jahr jeden Monat ein dreitägiges Training an», sagt Maik Pritschke, der diese Workshops zusammen mit Johanna Kube leitet. Kube und Pritschke sind Pflegefachleiter in der Psychiatrie des Klinikums. Heute geht es um Kommunikation. Denn in den selteneren Fällen werden Patienten wirklich handgreiflich. Die Eskalation auf so vielen Stationen verläuft eher verbal: lautstarker Protest, Schmollen, Beleidigungen und Beschimpfungen.
Was bedeutet Eskalation?
Eben bauen Pritschke und Kube aus drei Stellwänden ein provisorisches Schwesternzimmer auf. Die Pflegerin Franziska Kitschke und Kursleiter Pritschke werden in einem Rollenspiel vorführen, was Eskalation bedeutet: Pritsche tritt als wütender Sohn in die Tür des improvisierten Schwesternzimmers und legt los. Seine Mutter ist Patientin hier und liegt im eigenen Urin nass im Bett. Niemand hat die alte Dame versorgt. Und nun fordert er energisch im Schwesternzimmer Hilfe: «Meine Mutter liegt nass im Bett!» – «Ich habe keine Zeit.» – «Sie sind doch hier die Schwester oder etwa nicht?» – «Ich muss jetzt Medikamente stellen!» – «Das ist doch ein Unding, dass ich hier so … (der Sohn tritt ins Zimmer)» – «Dies hier ist ein Dienstzimmer!» – «Ist mir egal! Bewegen Sie Ihren Hintern und holen Sie gefälligst jemanden, der hier was zu sagen hat!» … und so weiter. Nach drei Minuten Rollenspiel sind beide festgefahren im (gespielten) Zorn und die Runde der Kursteilnehmerinnen nickt beifällig: «Kennen wir!»
«Gewalt beginnt da, wo der Patient oder der Angehörige psychisch oder körperlich davon abgehalten wird, seinen freien Willen zu leben, also da, wo man den freien Willen des Patienten einschränkt», erklärt Pritschke. So gesehen ist ein Krankenhaus der ideale Ort für die Eskalation von Konflikten. «Keiner unserer Klienten kommt ja gerne zu uns», sagt Pritschke, der auf der Psychiatriestation arbeitet. Manchmal braucht es nicht einmal eine Auseinandersetzung, wie im Rollenspiel vorgeführt.
Eine Demonstration der Macht
Die Gegebenheiten auf den Stationen reichen schon. So seien manche Schwesternzimmer mit einer dicken roten Linie auf dem Boden zwischen den Türpfosten versehen. «Das bedeutet doch: wir dürfen jederzeit in dein Zimmer, an dein Bett und in deine Nähe – aber du musst draussen bleiben», sagt Pritschke, «das ist eine Machtdemonstration, die Aggression als Antwort hervorrufen kann.»
Oder: Wie oft liegen Patienten stundenlang im Wartebereich der Notaufnahme und wollen nur eines: wieder nach Hause?, fragt Elisabeth Schroeder. Sie sind auf der Intensivstation wegen ihrer Verletzung auf das Bett angewiesen. «Was will man tun, wenn sie sich den Venenkatheter herausreissen?»
Viele Patienten auf der Notaufnahme werden wegen der vielen Stunden, die sie warten müssen, nervös, sagt Vanessa Meier. «Sie werden wütend, wenn die Angehörigen zurück zum Parkplatz müssen, um Geld in die Parkuhr zu werfen. Oder wenn sie keine Mahlzeiten bekommen oder nichts zu trinken. Kurz: Jeder Krankenhausaufenthalt birgt jede Menge Zündstoff. Zwischen 2013 und 2016 wurden von allen Stationen des Klinikums zusammengenommen über 1’000 Vorfälle gemeldet, sagt Pritschke. «Sogar aus der Pathologie, wo es manchmal Probleme mit den Angehörigen gibt.»
Wer hat angefangen?
Die grösste Schwierigkeit im Deeskalatonstraining dürfte die Schuldfrage sein. Wer hat angefangen? Wer muss jetzt zurückstecken? Irgendwann im Laufe der die Tage fällt dann bei den Teilnehmern der Groschen: Die Lösung findet jeder bei sich selber. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen. Oder, wie Pritschke sagt: «Es sind nicht immer die Patienten, es sind auch wir.»
Irgendwann müssen alle, die sich mit Gewalt und Eskalation im Krankenhaus auseinandersetzen, begreifen, dass es wenig Sinn hat, sich ausschliesslich über die Attacken der Patienten zu beschweren und immer mehr auf Schutz zu setzen. Gewiss – man sollte sich zum Beispiel «bei potenziell gewalttätigen Patienten der Psychiatrie immer so im Raum aufstellen, dass der Fluchtweg frei ist», sagt Pritschke.
Aber das Augenmerk des Seminars liegt auf der Chance, rechtzeitig vor einer Eskalation einzugreifen, also zu deeskalieren. Motto: Wer nicht Teil des Problems ist, ist auch nicht Teil der Lösung. Nur deshalb haben Selbstreflexion und moderierendes Verhalten von Ärzte und Pflegern überhaupt eine Chance. «Und das stellen wir nicht nur m Krankenhaus fest, sondern auch in Praxen, mit denen wir arbeiten», sagt Pritschke.
Viele der potenziellen Aggressions-Auslöser im Krankenhaus können die Kursteilnehmer in Braunschweig natürlich nicht einfach abschaffen. Aber Pflegende und Ärzte können den Ausbruch des angestauten Patienten-Ärgers rechtzeitig moderieren. «Die Türöffner benutzen», nennen Pritschke und Kube das.
Im Hinblick auf den Konflikt mit dem erbosten Sohn im Schwesternzimmer heisst das für die Schwester: Den Angehörigen ansehen, aufstehen und sich vorstellen, sich bedanken, dass er auf das Problem mit seiner Mutter aufmerksam macht, Lösungsvorschläge machen, den Zeitrahmen dafür realistisch angeben und so weiter. Dauert zu lange? Der Streit dauert länger.
«Tut mir leid, dass ich wütend war»
«Es geht im Wesentlichen in unserer Arbeit um Selbstreflexion», sagt Johanna Kube. «Das ist es auch, was die Teilnehmer dann mitnehmen. Eine Art Sensibilisierung: Wie trete ich jemandem gegenüber?» Annette Martius fragt sich jetzt immer öfter: «Wie hätte ich es als Patient gern? Man kann sich auch hineinversetzen in die Patienten.»
Vanessa Meier berichtet, dass sich Patienten nach ihrem Wutausbruch sogar entschuldigen. «Tut mir leid, dass ich so wütend war, ich hatte so einen Hunger, sagen die dann. Kann man ja auch verstehen.»
Der Effekt des Perspektivwechsels ist immens, meint auch Pritschke. «Seit ich aktiv deeskaliere, habe ich praktisch keine zielgerichteten Angriffe gegen meine Person mehr erlebt», berichtet er. «Vorher gab es so etwas wöchentlich.»
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