INTERVIEW
«Krebs wird immer mehr individuell behandelt»
Chefarzt Julian Schardt und Fachexpertin Onkologiepflege Marlis Bogaert über ihre Arbeit im Behandlungszentrum für Onkologie und Hämatologie und über Krebs als chronische Erkrankung und Humor.
In der Schweiz gibt es jedes Jahr 43 000 neue Krebserkrankungen. Ist das zu viel?
Marlies Bogaert: Jede Krebserkrankung ist grundsätzlich eine zu viel. Aber die meisten lassen sich leider nicht vermeiden.
PD Dr. med. Julian Schardt: Krebs ist eine Erkrankung der Gene und ein Ausdruck der zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft. Mit jedem Jahr, das wir älter werden, steigt rein statistisch gesehen das Risiko einer Krebserkrankung. Warum eine Person aber im höheren Alter an Krebs erkrankt und eine andere nicht, bleibt für den grössten Teil der Betroffenen unklar. Natürlich gibt es einige Faktoren wie das Rauchen, erhöhte Belastung durch UV-Strahlung oder exzessiver Alkoholkonsum, welche das Risiko von Krebs erhöhen. Aber wie gesagt, beim grössten Teil der Erkrankten lässt sich nicht genau sagen wieso.
Wo stehen wir bei Krebsbehandlungen?
Bogaert: Die Krebsüberlebenden in der Schweiz sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Das ist eigentlich eine positive Botschaft, denn es bedeutet: Es gibt immer mehr Menschen, die auch mit Krebs leben können. Ebenso hat die Nachbetreuung in Form der ambulanten onkologischen Rehabilitation an Bedeutung gewonnen.
Schardt: In den letzten zehn Jahren haben wir im Bereich der onkologischen Therapien enorme Fortschritte erlebt. So können wir dank der spezifischen Kenntnis von Genveränderungen bei verschiedenen Krebserkrankungen wie zum Beispiel Lungen-, Darm-, Haut oder auch Brustkrebs sogenannte gezielte Therapien erfolgreich einsetzen. Die zweite grosse Entwicklung gibt es im Bereich der Immuntherapien: Dabei wird das natürliche Immunsystem des Patienten genutzt, um gezielt die Krebszellen bekämpfen zu können. Eine dritte Entwicklung findet gerade im Bereich der zellulären Therapien statt: Patienten werden körpereigene Immunzellen entnommen und genetisch so modifiziert, dass sie nach der Rückgabe im Patienten gezielt Krebszellen eliminieren.
Haben diese neuen Behandlungsmethoden weniger Nebenwirkungen?
Schardt: Das lässt sich leider nicht verallgemeinern, die neuen Behandlungsmethoden sind bei vielen Tumorerkrankungen zwar viel effizienter als eine Chemotherapie, bringen aber sehr spezifische und zum Teil auch schwere Nebenwirkungen mit sich. In den meisten Fällen lassen sich diese durch den Einsatz von Medikamenten abfedern.
Krebs wird immer mehr in sogenannten Behandlungszentren behandelt, wie zum Beispiel Brustzentrum, Darmkrebszentrum oder dem Zentrum für Onkologie und Hämatologie. Was ist der Vorteil?
Schardt: Zertifizierte Behandlungszentren wie das Brustkrebs- oder das noch im Aufbau befindliche Darmkrebszentrum am Bürgerspital Solothurn erfüllen sehr hohe Qualitätskriterien, die regelmässig durch externe Gutachter auf deren Einhaltung und Weiterentwicklung überprüft werden. Damit können wir unseren Patienten eine sehr hohe Behandlungsqualität garantieren, die sich an den aktuellsten Standards in Europa orientiert.
Bogaert: Die Behandlung in Zentren führt auch dazu, dass alle Berufe und Spezialisten unter einem Dach sind.
Können Sie dies an einem Beispiel illustrieren?
Schardt: Nehmen wir als Beispiel die Krebserkrankung des Mastdarms (Rektum). Bei dieser spezifischen Darmkrebsform hat sich in klinischen Studien gezeigt, dass bei einem alleinigen chirurgischen Eingriff der Behandlungserfolg geringer ist, als wenn vor dem chirurgischen Eingriff eine Kombination aus Strahlen- und Chemotherapie durchgeführt wird.
Bogaert: Die Behandlung erfolgt nicht nur interdisziplinär, sondern auch interprofessionell. Das heisst bei Dickdarmkrebs werden die Patientinnen und Patienten zum Beispiel von der Ernährungsberatung betreut, erhalten eine Stomaberatung für den künstlichen Darmausgang und Physiotherapie. Nur wenn all diese ärztlichen Disziplinen, therapeutischen und pflegerischen Behandlungen eng verzahnt ineinandergreifen, erhalten Patienten den bestmöglichen Genesungseffekt. Krebs ist trotz vieler Fortschritte in der Behandlung eine potenziell tödliche Erkrankung.
Wie gehen Ihre Patientinnen und Patienten damit um?
Bogaert: Sehr unterschiedlich. Es kommt immer stark darauf an, mit was sie zu uns kommen. Zudem spielt die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, eine grosse Rolle. Wir erhalten viele Rückmeldungen von Patienten, die uns mitteilen, dass sie gerne zu uns ins Onkologiezentrum kommen. Wir sind für sie wie eine Stütze, hören ihnen zu und sind für sie da. Und wir erleben auch Dankbarkeit. Aber denken Sie ja nicht, dass hier immer nur eine bedrückte Stimmung herrscht. Bei uns wird viel gelacht. Humor hat einen wichtigen Platz bei uns.
Schardt: Die Diagnose Krebs ist für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen in der Regel immer mit sehr grossen Ängsten verbunden. Dies ist auch mehr als verständlich, werden die Patienten doch von einem Moment auf den anderen in eine existenzielle Situation geworfen. Neben der spezifischen Tumorart ist aber meist das Stadium der Erkrankung entscheidend für die Heilungschance – je früher die Erkrankung entdeckt wird, zum Beispiel im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung, desto besser sind in der Regel die Behandlungserfolge. Für die meisten Patienten mit fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung ist eine Heilung nach allen Regeln der Kunst nicht mehr möglich. Für diese Patienten gilt es, im gemeinsamen Gespräch realistische Ziele der Behandlung zu definieren, welche auf Erhalt der Lebensqualität und/oder Lebensverlängerung abzielen.
Was sind die häufigsten Fragen?
Schardt: Viele Patienten im fortgeschrittenen Krebsstadium fragen mich: «Wie viel Zeit bleibt mir noch?» Da jede Krebserkrankung eine individuelle Erkrankung darstellt, ist der Verlauf häufig nur schwer abzuschätzen. Mit jeder Prognose, die man für den einzelnen Patienten zu Beginn stellen würde, wird man in der Regel falsch liegen.
Bogaert: Ich erlebe oft, dass die Angst vor einem Rückfall sehr häufig genannt wird. Vor dem Ergebnis einer Computertomografie verbringen nicht wenige schlaflose Nächte. Wir achten in der Pflege zudem stark darauf, dass wir eine Kontinuität bei den Betreuungspersonen haben, dass immer dieselbe Person die Patienten betreuen kann.
Wohin wird sich die Krebsbehandlung in Zukunft entwickeln?
Schardt: Die Vernetzung zwischen den unterschiedlichen medizinischen Behandlungsteams und Disziplinen im Spital wird immer mehr eine ganzheitliche Behandlung ermöglichen. Die Onkologie ist ein sehr innovatives Feld; sowohl in der Grundlagenforschung als auch bei der Medikamentenentwicklung. Die neuen Therapien werden wir immer stärker an die spezifischen Charakteristika einer Erkrankung ausrichten, sprich personalisieren.
Bogaert: Es wird mehr Menschen geben, die mit Krebs als chronische Erkrankung leben, und Cancer Survivors. Als Cancer Survivors gelten Menschen, welche fünf Jahre nach der Therapie ohne Rückfall sind. Die Begleitung dieser Menschen zurück in den Alltag ist eine neue Herausforderung. Ausserdem wünsche ich mir, dass wir die Zeit, die wir heute für die Patienten haben, auch behalten können. Es ist wichtig, dass wir nah am Patienten sind und den Menschen ganzheitlich betreuen.
Wir freuen uns über Ihre Kommentare zum Interview!
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